Immaterielles Kulturerbe:  

Eine kulturphilosophische Kurzbetrachtung zur Wandelbarkeit von Kultur

 

Ziel des folgenden Beitrags soll es sein, kulturphilosophisch über Veränderungspotenziale Immaterieller Kulturformen nachzudenken. Im Zentrum steht hierbei die normative Fragestellung, wie viel Veränderung eine Kulturform erfahren kann, bevor sie ihren kulturellen Ursprungswert verliert und wohlmöglich eine gänzlich neue Kulturform wird. Der Komplexität der Frage geschuldet, liefert der Beitrag keine Antworten. Eine Hypothese jedoch soll erste Impulse für diskursiv zu findende Antworten liefern.

 

 

Immaterielles Kulturerbe: Der wandelbare Charakter von Kultur

Mit der Verabschiedung des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes im Jahr 2003 wurde der kulturellen Relevanz von Traditionen, Werten, Wissenssystemen und praktischen Fertigkeiten, die über Generationen hinweg weitergegeben werden, ein hohes Maß an Bedeutung beigemessen. Als integrale Anforderung an Immaterielle Kulturformen gilt, dass sie  ihrer Weiterentwicklungen vollziehen und dadurch vor Stagnationen bewahrt bleiben. Hiermit baut die Konzeption des Immateriellen Kulturerbes stark auf das Kulturverständnis in der 2001 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung zur kulturellen Vielfalt auf, welche Kultur als Quelle des Austauschs, sowie der Erneuerung und Kreativität definiert und sich damit an dem erweiterten Kulturbegriff der Weltkonferenz über Kulturpolitik von Mexiko City, orientiert.[1]

 

 

Eine kulturphilosophische Einordnung des Kulturbegriffs der UNESCO

Mit der Akzentuierung der inneren Dynamik von Kulturen orientiert sich das Kulturverständnis der UNESCO an kulturphilosophischen Ansätzen, welche die diachrone Unbeständigkeit von kulturellen Praxen hervorheben. Kulturen werden hierbei nicht nur von diversen Kollektiven und in unterschiedlichen Ausformungen getragen, sondern bergen immer auch das Potenzial sich im Sinne von kulturellen Hybridisierungen verändern zu können.[2] In Abhängigkeit ihrer konzeptionellen Lagerung findet sich ein solch offenes Verständnis von Kultur, als Reaktion auf stetig wachsende globale Interdependenzen, in inter- und transkulturellen Arbeiten wieder.

Kulturphilosophisch grenzt sich die Kulturkonzeption der UNESCO damit von Arbeiten eher multikulturell geprägter Denkschulen ab, die aufbauend auf Johann Gottfried Herders klassischem Kulturbegriff,[3] ihren Ansätzen ein statisches und binäres System von Eigen- oder Fremdkultur zugrunde legen.[4]

 

 

Kulturelle Praxen im Wandel: Wie viel Veränderung ist möglich?

 

„Geben Sie bitte an, wann und wie die Kulturform entstanden ist, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat, und wie sie von Generation zu Generation weitergegeben wird und damit Kontinuität vermittelt.“[5]

 

Ausgehend vom aufgeführten Zitat aus dem Bewerbungsformular für das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes, wird die Anforderung an die Wandelbarkeit von Kulturformen besonders deutlich.

 

Hieran anschließend stellt sich die Frage: 

 

  • Wie sehr kann sich eine Immaterielle Kulturform verändern ohne ihren kulturellen Selbstwert zu verlieren?

 

Es ist eine normative und eine zweifellos nicht eindeutig zu beantwortende Frage, welche Grundfesten einer Kulturform bestehen bleiben müssen, um von ihr auch weiterhin als Kulturform, die sie einmal war, sprechen zu können. Sicher erscheint jedoch, dass eine diskursive Behandlung dieser Frage weit gewinnbringender ausfiele als eine rein theoretische Argumentationskette. So können vor allem Erfahrungswerte von Trägern der Kulturformen, die im Verständnis der UNESCO zentrale Akteure in der Identifizierung, der Erhaltung sowie der Weiterentwicklung von immateriellen Kulturformen darstellen, gleichsam stimulierende- und diskursiv richtungsweisende Einblicke liefern.  

 

Und dennoch: Der Komplexität der Frage geschuldet, soll die im Folgenden aus der Theorie hergeleitete und zur Diskussion stehende Hypothese erste Impulse für eine Auseinandersetzung mit der benannten Fragestellung liefern:

 

  • Je stärker eine Immaterielle Kulturform materielle Bezüge aufweist, desto weniger Freiräume für Veränderungen der Kulturform ergeben sich.

 

Kulturformen, die unter das Immaterielle Kulturerbe fallen, weisen unterschiedliche materielle Bezüge auf. So lassen sich (1) Bräuche, Feste, Körperpraktiken, Wissenssysteme oder Sprachen in entsprechenden Registern ausmachen, die in ihrer Realisierung weniger stark von materiellen Quellen abhängen. Vielmehr entsprechen sie daher Kulturformen, die aus kulturphilosophischer Sicht multikollektiven Ursprungs sind und als Bedeutungs- und Orientierungssystem bzw. Verabredungen von Codes, Werten und Regeln, ohne gesonderte materielle Bezugsquellen auskommen.[6] Anders verhält es mit Formen des Immateriellen Kulturerbes, die ohne die Nutzung von bestimmten materiellen Komponenten nicht realisiert werden können. Zu denken ist hier bspw. an (2) Formen der Manufaktur mit bestimmten Werkzeugen, das Spielen von historischen Instrumenten oder das Tragen von historischen Kleidern zu bestimmten Anlässen.

 

Die Hypothese unterstellt einen Zusammenhang zwischen der materiellen Sphäre einer Immateriellen Kulturform und dem Grad ihres Veränderungspotenzials. Begründet wird die beschriebene Korrelation mit der Annahme, dass materielle Komponenten durch ihre Materialität greifbarere (und eher überzeitliche) Ankerpunkte für Kulturformen darstellen, die durch diskursive Verschiebungen weniger leicht verloren gehen bzw. bewusst ausgetauscht werden können. Anders verhält sich dies mit bspw. rein sprachlichen/künstlerischen Formen des Immateriellen Kulturerbes, die ggf. in ihren Ursprüngen nicht verschriftlicht sind und daher durch immer neue Träger der Kultur, stärker zeitbedingten Veränderungen unterliegen.

Die weitere Überprüfung der Hypothese, sowie die kritische Auseinandersetzung mit ihr, mögen zukünftig zur Klärung der aufgeworfenen Fragestellung helfen.

 

Autor: Vincent Berendes                                                                                        

E-Mail:

 

[1] UNESCO (2001): Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt. Link: https://www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/2001_Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_zur_kulturellen_Vielfalt.pdf (Zugriff am 23.03.2020).

[2] Welsch, Wolfgang (1997): Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Schneider, Irmela/Thomson, Christian (Hrsg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand Verlag.

[3] Herder, Johann Gottfried [1784] (2013): Ideen zur Philosophie der Geschichte der

Menschheit. Berlin: Holzinger Verlag.

[4] Neubert, Stefan/Roth, Hans-Joachim/Yildiz, Erol (Hrsg.) (2008): Multikulturalität in der Diskussion: Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

[5] DUK (2019): Bewerbungsformular für das Bundeweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Link: https://www.unesco.de/sites/default/files/2019-08/Bewerbungsformular_Bundesweites-Verzeichnis_2019-20.pdf (Zugriff am 24.03.2020).

[6] Hansen, Klaus Peter (2009): Kultur und Kulturwissenschaft: Eine Einführung. Stuttgart: UTB GmbH.