Zur Diskussion: Wohin steuert die UNESCO?

29.09.2018

"Wohin steuert die UNESCO?" – so lautete der Titel einer Veranstaltung, die am 13. Dezember 2017 im Senatssaal der Humboldt-Universität unter Mitwirkung des Berliner Komitees für UNESCO-Arbeit e. V. durchgeführt wurde. Begrüßt wurden die Gäste von Herrn Prof. Dr. Stefan Willer, Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, mit einer Einführung, die wir im Folgenden zur Diskussion stellen.

 

Stefan Willer: Einführung

 

Inwiefern ist Kulturpolitik ein Thema der Kulturwissenschaft – vielleicht auch ein Anliegen der Kulturwissenschaft?

 

Zur Beantwortung der Frage möchte ich ein Thema herausgreifen, das für die UNESCO zweifellos von Bedeutung und für das die UNESCO zweifellos besonders bekannt ist: das 'Welterbe' (World Heritage), insbesondere das Welt-Kulturerbe. Möglicherweise steht dies im folgenden Vortrag und der Diskussion nicht im Zentrum; aber es ist ein kulturwissenschaftlich höchst interessantes Problem – und immerhin ja auch das zentrale Anliegen des Mitveranstalters World Heritage Watch. Also, wenn Sie erlauben (und für knapp 10 Minuten): Was heißt es, die 'Welt', die 'Kultur' und das 'Erbe' so eng aufeinander zu beziehen, wie das in der Formel World Heritage geschieht?

 

Wenn heute vom Weltkulturerbe die Rede ist, dann wird zumeist die Vorstellung eines aus der Vergangenheit stammenden Schatzes betont, den es zu inventarisieren, zu bewahren und an kommende Generationen weiterzugeben gilt. So formuliert es die am 16. November 1972 in Paris verabschiedete World-Heritage-Konvention der UNESCO als Selbstverpflichtung jedes Unterzeichner­staats: "Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen […] Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen".

 

Erbe heißt ja ganz allgemein: Weitergabe von Generation zu Generation; und zwar auf verschiedenen Gebieten: ökonomisch, juristisch, biologisch, kulturell. Indem das UNESCO-Übereinkommen zum Welterbe so explizit die "Weitergabe an künftige Generationen" betont, nutzt es also eine zugleich gut etablierte und äußerst vieldeutige Vorstellung von Überlieferung als einem transgenerationalen Vorgang. In Sachen Kulturerbe fällt auf, dass die Weitergabe – indem sie unter den Vorzeichen von Schutz und Erhaltung steht – auf lange Dauer, wenn nicht gar auf Ewigkeit gestellt wird. So formulierte es einmal der frühere Direktor des World Heritage Center, Francesco Bandarin: Wenn man von der Konservierung des Erbes spreche, dann denke man "per definitionem langfristig – nicht für ein oder zwei Jahre, sondern für immer" ("conservation is by definition long term – not for a year or two, but for ever").

 

Dieser zeitliche Imperativ ist keineswegs unproblematisch. Schutz "für immer" heißt, dass dem zu schützenden und zu bewahrenden Erbe ein sehr weit­gehendes Recht an der Gegenwart und der Zukunft eingeräumt wird. Genau in dieser begrifflichen Allianz von Erbe, Nachhaltigkeit, Überleben und Konservieren offenbart sich das eigentümliche Zeitregime einer konservatorischen – oder auch konservativen – Futurisierung. In diesem maximalen Sinn verstanden, muss das kulturelle Erbe in eine grenzenlose Zukunft hinein bewahrt werden.

 

Dagegen könnte man einwenden: Der Sinn des Konzepts 'Erbe' liegt gerade darin, dass diese Vorgabe einer grenzenlosen Konservierung nicht zweifelsfrei gilt, sondern umstritten ist. Gemeinsam ist allen als 'Erbe' klassifizierten Übertragungen, dass sie ein komplexes Verhältnis zwischen Vererbendem, Vererbtem und Erbendem erzeugen; gemeinsam ist ihnen nicht zuletzt, dass sie eine Zäsur voraussetzen: Erst durch eine Unterbrechung in der Kette der Wesen, Dinge oder Ereignisse kommt es überhaupt zur Übertragung.

 

Am deutlichsten ist dies in der juristischen Definition des Erbes als einer Übertragung von Todes wegen, aber auch andere Formen der Vererbung – ob kulturell oder biologisch – bedürfen des Momentes der Zäsur. Speziell die kulturelle Überlieferung ist kein kontinuierlicher Vorgang, sondern geprägt von Umbrüchen, Konflikten und Widersprüchen. Der Begriff des kulturellen Erbes bringt eben diesen grundsätzlich strittigen und diskontinuierlichen Status der Traditionsbildung auf den Punkt – so wie auch die Vererbung von Eigentum oft genug zu erheblichen Konflikten führt und von vornherein niemals ohne die Zäsur des Todes zu denken ist.

 

In der Tat ist der Befund der Unterbrechung, der Zäsur, historisch grundlegend für das UNESCO-Konzept des kulturellen Erbes. Seine Entstehung ist nicht zu trennen von der faktischen Zerstörung materieller wie immaterieller kultureller Werte durch jenen Weltkrieg, der die internationalen Organisationen der Vereinten Nationen erst hervorgebracht hat. Auch für zahlreiche Stätten, denen seit der Konvention von 1972 der Status des Welterbes zugesprochen wurde, gilt das konstitutive Moment der Bedrohung (vgl. dazu die 'rote Liste' des World Heritage in Danger).

 

Während 'Erbe' also das Problem des kulturellen Transfers und damit das grundsätzliche Problem der Zeitlichkeit benennt, wird mit der 'Welt' zusätzlich eine räumliche Komponente adressiert. Jedenfalls scheint der Ausdruck 'Welt' zunächst einmal so etwas wie globale Ausdehnung zu bedeuten; er benennt den weltweiten Anwendungsbereich der Kulturpolitik, die von der UNESCO als einer internationalen Organisation betrieben wird.

 

Allerdings ist der Begriff 'Welt' keineswegs nur nach seinem Umfang, also nach der globalen Ausdehnung, zu bestimmen, sondern auch nach seinem Inhalt. Die 'Welt' des 'Welterbes' zielt auf Universalität und Allgemeingültigkeit, auf maximale Inklusion der Gesamtheit aller Menschen. Es geht also um das Erbe der Mensch­heit als ganzer, wie die Präambel der World-Heritage-Konvention von 1972 formuliert: "the world heritage of mankind as a whole".

 

Wenn man die Welt als Erbe versteht, dann gilt das im Doppelsinn, den das Wort 'Erbe' im Deutschen hat: Die Welt ist Erbe, insofern sie selbst erbt – 'Welt' hier metonymisch verstanden als Gesamtheit der "peoples of the world" (so wieder die Präambel). Und: Die Welt ist Erbe, insofern sie ein Erbteil ist. Man könnte also sagen: Die Welt erbt die Welt.

 

Trotz dieser immer wieder betonten Gesamtheit und Ganzheit sind die einzelnen Stätten auf der Welterbeliste der UNESCO in der Regel einzelnen Nationen zugeschrieben und befinden sich außerdem oft in regionalem, kommunalem oder auch privatem Eigentum. (So auch im Memory of the World Register, also dem Weltdokumentenerbe, oder auf der Liste des Immateriellen Kulturerbes.) Inwiefern soll aber die jeweils einzelne Welterbe-Stätte in ihrer Partikularität dennoch eine Erscheinungsform von Globalität und Universalität sein? Was ist überhaupt eine 'Welterbe-Stätte'? Wie wird sie definiert und abgegrenzt? Und wie verhält sich die territoriale Begrenzung jeder einzelnen Stätte zur numerischen Begrenztheit der Stätten auf der Welterbe-Liste?

 

Das Problem von Einschluss und Ausschluss ist von großer Bedeutung, wenn man die heute so aktuelle und wirkungsvolle Verknüpfung von 'Welt' und 'Erbe' verstehen möchte. Es betrifft die zeitlich-räumliche Begrenzung jeder einzelnen Welterbe-Stätte, und es wird fortwährend in der Politik des Erbes insgesamt diskutiert: als Frage, was überhaupt auf die 'Liste' gehört und was nicht, und als Frage, was wieder auszuschließen ist, weil es den Kriterien von 'Pflege' und 'Management' nicht gehorcht.

 

Dabei verfährt die UNESCO zum einen entschieden universalistisch (in der unbegrenzten Anwendung derselben Kriterien auf alle Stätten), zum anderen global (in der grenzüberschreitenden Gleichberechtigung aller Gegenden und Überlieferungsstränge der Erde) – und zwar so, dass die universale Anwendung des Konzepts Erbe tatsächlich zu einer Art globalen Verteilung von Kulturwerten führen soll.

 

Ist es vielleicht sogar so, dass das Konzept World Heritage in seinem universalen Anspruch so etwas wie eine imperiale Erbschaft darstellt? Das würde allerdings nicht als Wiedergewinnung einer prä-nationalen Situation gelten, sondern als Versuch, eine globalisierte Welt zu strukturieren, die vielleicht auf dem Weg ins Postnationale ist. Allerdings stellt sich genau das seit einiger Zeit politisch ja doch ganz anders dar: als Re-Nationalisierung oder als Neo-Nationalismus. Und auch unter UNESCO-Prämissen ist derzeit die Welt regelförmig nur auf dem Umweg über die Nation und die Internationalität zu erreichen.

 

Das ist nun in der Tat eine kulturpolitisch interessante – und auch prekäre – Situation; und damit möchte ich nun zum Vortrag von Michael Worbs und zur Replik von Klaus Hüfner überleiten. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, begrüße Sie alle herzlich an der Humboldt-Universität und bin gespannt auf den Fortgang des Abends.