Noch immer aktuell: Die UNESCO ist in Gefahr – Gründe, Konsequenzen und Lösungen

08.04.2013

Ein offener Brief an die Mitgliedstaaten der UNESCO, die UNESCO-Nationalkommissionen und an diejenigen, die an den Dienst der UNESCO für die Menschheit glauben.

 


28. September 2012

Die UNESCO ist in Gefahr – Gründe, Konsequenzen und Lösungen,


Liebe Leser,

nach 40 Jahren aktiven, ehrenamtlichen Engagements in UNESCO-Angelegenheiten, bei denen ich mit unterschiedlichen Aufgaben betraut war, bin ich angesichts der gegenwärtigen finanziellen und politischen Situation der UNESCO extrem beunruhigt.

Ende Oktober 2011 entschied ein Gründungsmitglied der Organisation, die Beiträge für das laufende Jahr trotz der Tatsache nicht zu zahlen, dass laut Artikel 5.5 der Finanzordnung alle Mitgliedstaaten angefordert werden, ihre jährlichen Beiträge unverzüglich und vollständig zu zahlen, d.h. innerhalb des ersten Monats des Kalenderjahres. Gleichzeitig entschied der betroffene Mitgliedstaat, in der Organisation zu bleiben und wurde bis 2015 zum Mitglied des Exekutivrats gewählt.

Die Entscheidung, seine Pflichtbeiträge nicht zu zahlen, wurde 2012 ebenfalls getroffen. Die Folgen dieser Entscheidung sind alarmierend und gehen über das Problem der unerwarteten Haushaltseinschränkungen hinaus. Am 31. August 2012 schuldete der betroffene Mitgliedstaat der Organisation über 150 Millionen US-Dollar und hinderte dadurch das Sekretariat daran, den verabschiedeten Programm- und Haushaltsplan für 2012-2013 [36 C/5 Approved] zu verwirklichen, der auf der 36. Tagung der Generalkonferenz 2011 verabschiedet wurde.

Dabei gilt das Prinzip, das für alle demokratischen Staaten, einschließlich des betroffenen Mitgliedstaats, so wichtig ist: „Keine Besteuerung ohne Vertretung“ bedeutet auch „keine Vertretung ohne Besteuerung“. Sollte es irgendwelche Zweifel an den genannten internationalen Rechtsnormen geben, schlage ich vor, dass die UNESCO ein Gutachten beim Internationalen Gerichtshof anfordert [Kapitel IV: Gutachten des Statuts des IGH].

Die Fortsetzung der Mitgliedschaft in der UNESCO bedeutet, dass die angehäuften Schulden von dem betroffenen Mitgliedstaat früher oder später bezahlt werden müssen. Unklar sind nur die Daten und der Zinssatz. Angesichts der bevorstehenden Entscheidungen hinsichtlich der Annahme einer Mittelfristigen Strategie für die Jahre 2014-2021 ist die Organisation einer extrem hohen finanziellen Unsicherheit ausgesetzt.

Aufgrund der verfügbaren Informationen sieht es so aus, als ob die Generaldirektorin und der Exekutivrat sich entschieden haben, eine Strategie des „Abwarten und Tee trinken“ anzuwenden. Denn unverzüglich ergriffene Maßnahmen zu Kosteneinsparungen und die Einrichtung eines Krisensonderfonds stellen nur kurzfristige Maßnahmen dar, um dieProbleme zu lösen, welche mit der Zahlungsfähigkeit verbunden sind. Die Haushaltsobergrenze wurde von 653 auf 465 Millionen US-Dollar reduziert, was einer Verringerung um fast 30 Prozent entspricht und somit ernste Einschnitte im verabschiedeten Programm und Haushalt 2012-2013 zur Folge hat. Es sieht so aus, als ob man die UNESCO sprichwörtlich „zu Tode verbluten“ lässt.

Ich behaupte mit Nachdruck, dass diese Politik in eine falsche Richtung führt. Und alle betroffenen Parteien müssen sich nach den mittelfristigen Folgen fragen, wenn die Strategie des „Abwarten und Tee trinken“ fortgesetzt wird. Es ist leicht vorhersehbar, dass wir uns während der 37. Tagung der Generalkonferenz im Herbst 2013 mit einer viel kleineren Organisation in Bezug auf Aktivitäten und Personal beschäftigen müssen. Deswegen habe ich diese Nachricht unter dem Titel „Die UNESCO ist in Gefahr“ verfasst. Und ich weiß, dass dies nicht nur meine persönliche Meinung ist.

Ausgehend von meinen wissenschaftlichen Arbeiten zur Finanzierung des Systems der Vereinten Nationen, glaube ich, dass der Frage, wie die finanzielle Lücke überwunden werden kann, höchste Priorität eingeräumt werden muss. Welche finanziellen Mechanismen sollten angewendet werden, um die UNESCO bei der Erfüllung ihrer Aufgaben in der heutigen Zeit zu unterstützen? Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten. Erstens: Um die finanzielle Lücke im regulären Haushalt in Höhe von 22 Prozent zu schließen, sollten alle anderen Mitgliedstaaten ihre veranlagten Beiträge jeweils um 22 Prozent erhöhen – eine Beitragserhöhung, die als Darlehen zu betrachten ist. Das Darlehen wird zurückgezahlt, sobald der betroffene Staat seine Rechnungen begleicht. Zweitens: Falls kein Kompromiss gefunden werden kann, könnte das Gastland eine Bürgschaft für die geschuldeten 22 Prozent garantieren, welche von der „Caisse des Dépots et Consignations“ angeboten wird.

Für den Fall, dass ein alternativer finanzieller Mechanismus die gegenwärtige finanzielle Lücke nicht schließen kann, werden alle Debatten über die nächste Mittelfristige Strategie der Organisation ohne eine ernsthafte und sichere Grundlage geführt. Erst danach können und
müssen neue Prioritäten, größere strukturelle Veränderungen, Auslaufregelungen usw. mit dem Ziel diskutiert werden, die Arbeitsweise der UNESCO zu verbessern. Es wäre sehr schade, wenn aufgrund des willkürlichen Verhaltens ohne Rechtsgrundlage eines der Mitgliedstaaten die Zukunft dieser einzigen Weltorganisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur gefährdet ist. Was die Gründerstaaten der UNESCO vor über 65 Jahren als ihre Mission formulierten, verliert auch heute nicht an Bedeutung.

Bitte zögern Sie nicht, in eine Diskussion über die Zukunft der UNESCO einzutreten.

Mit freundlichem Gruß,
Prof. Dr. Klaus Hüfner
Ehrenvorsitzender des Berliner Komitees für UNESCO-Arbeit


Deutsche Version des Briefes als PDF unter www.dgvn.de
Englische Version des Briefes unter www.unesco-berlin.de